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Ordnung der Gefängnisseelsorge in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers

Vom 16. September 2009

KABl. 2009, S. 194

Präambel
Die Seelsorge an Gefangenen gehört zum unverzichtbaren Auftrag der Kirche (Mt. 25,36).
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland garantiert einerseits Gefangenen das Recht auf freie Religionsausübung (Artikel 4 Grundgesetz) und andererseits den Kirchen und Religionsgemeinschaften das Recht zu Gottesdienst und Seelsorge auch in Gefängnissen (Artikel 140 Grundgesetz i.V.m. Art. 141 Weimarer Reichsverfassung). In Niedersachsen ist die Gefängnisseelsorge durch Artikel 6 des Vertrages der evangelischen Landeskirchen in Niedersachsen mit dem Lande Niedersachsen vom 19. März 1955 (Loccumer Vertrag) i.V.m. Artikel 3 des Ergänzungsvertrages zum Loccumer Vertrag vom 4. März 1965 institutionell gewährleistet und rechtlich verankert.
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§ 1
Grundsätze

( 1 ) Diese Ordnung gilt für die beruflich Mitarbeitenden der Kirche, die einen besonderen Auftrag zur Seelsorge in Justizvollzugsanstalten, Jugendarrestanstalten und Anstalten des Maßregelvollzugs (im Folgenden „Gefängnis“ genannt) erhalten haben.
( 2 ) Die Gefängnisseelsorge ist Dienst der Kirche an den Gefangenen und an den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Strafvollzug. Sie setzt sich insbesondere für die seelischen und ggf. auch materiellen Bedürfnisse der Gefangenen ein.
( 3 ) Die Gefängnisseelsorge hält den Konflikt zwischen Sicherheit und Seelsorge aus, begleitet in kritischer Loyalität die Entwicklung des Gefängnisses und des Vollzugs und arbeitet vertrauensvoll mit der Gefängnisleitung zusammen.
( 4 ) Die Gefängnisseelsorge orientiert sich an den „Leitlinien für das Selbstverständnis und die Arbeit der Evangelischen Gefängnisseelsorge innerhalb der Gliedkirchen der EKD“.
( 5 ) Die Gefängnisseelsorge, die sich in erster Linie an die Gefangenen und die Mitarbeitenden des Gefängnisses richtet, behält auch die Opfer im Blick und setzt sich für einen Täter-Opfer-Ausgleich ein.
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§ 2
Aufgaben der Gefängnisseelsorge

Die Gefängnisseelsorge hat folgende je nach Einrichtung im Einzelfall zu spezifizierende Aufgabenfelder:
  1. Gottesdienste und Andachten – auch überkonfessionell,
  2. Einzel- und Gruppenseelsorge,
  3. Bildungsangebote für Gefangene,
  4. Seelsorge an Angehörigen,
  5. Angebote für die Mitarbeitenden des Gefängnisses,
  6. Öffentlichkeitsarbeit,
  7. Pflege des ethischen Diskurses über Fragen des Strafvollzugs.
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§ 3
Mitarbeitende der Gefängnisseelsorge

( 1 ) Gefängnisseelsorger und Gefängnisseelsorgerinnen sind in der Regel Pastoren und Pastorinnen mit einem besonderen Seelsorgeauftrag und in Ausnahmefällen Diakone und Diakoninnen, die im Rahmen ihrer Dienstanweisung einen bestimmten Seelsorgeauftrag in der Gefängnisseelsorge besitzen.
( 2 ) Gefängnisseelsorger und Gefängnisseelsorgerinnen unterstehen der Dienst- und Fachaufsicht der Landeskirche und sind im Übrigen in ihrem Auftrag unabhängig.
( 3 ) Die Gefängnisseelsorge darf mit Zustimmung der Gefängnisleitung ehrenamtliche Seelsorgehelfer und Seelsorgehelferinnen zur seelsorglichen Begleitung Gefangener hinzuziehen.
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§ 4
Kompetenzen und Qualifikationen

( 1 ) Aus den Aufgaben ergeben sich Qualitätsanforderungen an die gemäß § 3 Abs. 1 mit der Gefängnisseelsorge Beauftragten. Sie bringen für die Gefängnisseelsorge folgende Kompetenzen mit oder werden dafür durch die Landeskirche qualifiziert:
  1. Die theologisch-geistliche Kompetenz erweist sich in der Fähigkeit,
    1. Menschen mit der biblischen Tradition in ihrer Suche nach Sinn zu begleiten und spirituell und liturgisch angemessen zu handeln,
    2. über ökumenische Sprachfähigkeit und interreligiöse Kenntnisse zu verfügen.
  2. Die ethische Kompetenz erweist sich in der Fähigkeit,
    1. Probleme des Strafvollzugs interdisziplinär anschlussfähig zu benennen und die eigene Position verständlich und integrationsfähig in ein Gespräch einzubringen,
    2. Beteiligte auch anderer Positionen für ein gemeinsames Handeln zu gewinnen.
  3. Die kommunikativ-seelsorgliche Kompetenz erweist sich darin,
    1. sich kurzfristig und schnell auf wechselnde Beziehungen einstellen und mit ihnen professionell reflektiert umgehen zu können,
    2. psychisch belastbar und für die eigenen Fähigkeiten und Begrenzungen sensibilisiert zu sein,
    3. angesichts der Abhängigkeiten im Gefängnis und der vielfach beschädigten Beziehungserfahrungen der Gefangenen eine besondere Sensibilität für den Umgang mit Nähe und Distanz in der Seelsorgebeziehung zu besitzen,
    4. die Fähigkeit zu haben, kritisch-konstruktiv sowohl mit den Bedürfnissen der Gefangenen als auch mit den Notwendigkeiten des Strafvollzugs umzugehen.
  4. Die systemische Feldkompetenz erweist sich in Kenntnissen über
    1. Auftrag, Funktion, Ziele und Wirkweisen des Strafvollzugs und über seine konkrete Ausgestaltung in dem jeweiligen Gefängnis,
    2. Entstehungsbedingungen, Deutungs- und Erklärungsansätze von Delinquenz und die Merkmale, Grundkonflikte und Ausdrucksformen von Dissozialität,
    3. den Umgang mit schweren psychischen Krisen, mit Suizid und Suizidversuchen,
    4. Trauerbegleitung unter den besonderen Umständen der Haft.
  5. Die interreligiöse und interkulturelle Kompetenz erweist sich in
    1. Kenntnissen über kulturelle Zugehörigkeit, über unterschiedliche Wert- und Moralvorstellungen und über die unterschiedlichen religiösen Haltungen und Ausdrucksformen von Menschen anderer Weltanschauungen und Konfessionen,
    2. der Fähigkeit, sich über konfessionelle, religiöse und kulturelle Grenzen hinweg verständigen zu können, ohne die eigene Identität aufzugeben.
( 2 ) Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers stellt im Rahmen ihres Haushaltsplanes für den Erwerb dieser Kompetenzen Folgendes an Aus-, Fort- und Weiterbildung zur Verfügung:
  1. praktische Berufsausbildung und Tätigkeit in Kirchengemeinden,
  2. Einführung in das Praxisfeld der Gefängnisseelsorge,
  3. Weiterbildungskurse auf Grundlage pastoralpsychologischer und humanwissenschaftlicher Standards,
  4. Kurse zur ethischen Urteilsbildung,
  5. Kurse in Mediation, Moderation, Gesprächsführung, Konfliktmanagement u.ä.,
  6. berufsbegleitende Supervision.
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§ 5
Verschwiegenheit und Kooperation

( 1 ) Gefängnisseelsorger und Gefängnisseelsorgerinnen im Sinne von § 3 Abs. 1 haben über alles, was ihnen in ihrer Eigenschaft als Seelsorger oder Seelsorgerin anvertraut worden oder bekannt geworden ist, zu schweigen. Werden sie durch die Person, die sich ihnen anvertraut hat, von der Schweigepflicht entbunden, so sollen sie gleichwohl sorgfältig prüfen, ob und inwieweit sie Aussagen oder Mitteilungen verantworten können.
( 2 ) Das Beichtgeheimnis bleibt unberührt.
( 3 ) Soweit Kenntnisse unter das Seelsorgegeheimnis nach Absatz 1 oder unter das Beichtgeheimnis fallen, haben Gefängnisseelsorger und Gefängnisseelsorgerinnen ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 Abs. 1 Nr. 1 Strafprozessordnung. Sie sind auch nicht verpflichtet, geplante Straftaten anzuzeigen. Unter das Zeugnisverweigerungsrecht fällt allerdings nicht, was Seelsorger und Seelsorgerinnen im Sinne von § 3 Abs. 1 in ausschließlich administrativer, karitativer oder erzieherischer Tätigkeit erfahren. Im Zweifelsfall kommt der Gewissensentscheidung der Seelsorgerin oder des Seelsorgers für die Zeugnisverweigerung entscheidende Bedeutung zu.
( 4 ) Über die seelsorgliche Verschwiegenheit und das Beichtgeheimnis hinaus sind Gefängnisseelsorger und Gefängnisseelsorgerinnen im Sinne von § 3 Abs. 1 nach Maßgabe der für sie geltenden dienst- oder arbeitsrechtlichen Bestimmungen zur dienstlichen Verschwiegenheit verpflichtet. Aussagen oder Erklärungen über Gegenstände, die der Verschwiegenheitspflicht unterliegen, sind nur mit Genehmigung des Landeskirchenamtes zulässig.
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§ 6
Stellenbesetzung

( 1 ) Die zur Verfügung stehenden Stellen werden im Einvernehmen mit den zuständigen staatlichen Stellen besetzt.
( 2 ) Auf eine Stelle können Pastoren und Pastorinnen berufen werden, die
  1. in der Regel bereits einige Jahre Kirchengemeindepraxis haben,
  2. eine spezielle Ausbildung in Seelsorge absolviert haben,
  3. sich systemische Feldkompetenzen im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 4 angeeignet haben.
( 3 ) Das Landeskirchenamt erteilt den Auftrag zur Gefängnisseelsorge für Pastoren und Pastorinnen in der Regel für die Dauer von sechs Jahren und kann ihn einmalig um bis zu vier Jahre verlängern.
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§ 7
Dienst- und Fachaufsicht

( 1 ) Die Dienstaufsicht für die gemäß § 3 Abs. 1 mit der Gefängnisseelsorge Beauftragten liegt bei dem Superintendenten oder der Superintendentin des Kirchenkreises, dem der oder die Beauftragte zugewiesen ist.
( 2 ) Die Jahresgespräche werden von dem zuständigen Superintendenten oder der zuständigen Superintendentin geführt.
( 3 ) Das Landeskirchenamt nimmt die Fachaufsicht für die Gefängnisseelsorge wahr, insbesondere durch
  1. auf das spezielle Tätigkeitsfeld zugeschnittene Dienstbeschreibungen,
  2. jährliche Berichte, die es von jedem der Gefängnisseelsorger und Gefängnisseelsorgerinnen auf dem Dienstweg entgegennimmt, und sich daraus möglicherweise ergebende weitere Abstimmungen,
  3. die laufende fachliche Beratung der Herausforderungen in der Gefängnisseelsorge mit den Gefängnisseelsorgerinnen und Gefängnisseelsorgern und der „Ev. Regionalkonferenz für Gefängnisseelsorge in Niedersachsen und Bremen“.
( 4 ) Die Visitation der Gefängnisseelsorge findet in der Regel im Rahmen der Visitation des Kirchenkreises statt.
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§ 8
Konferenzen, Konvente

( 1 ) Die Teilnahme der Gefängnisseelsorger und Gefängnisseelsorgerinnen an Konferenzen, Konventen und Gremien verfolgt das Ziel
  1. des fachlichen Austausches (kollegiale Beratung),
  2. der fachlichen Fortbildung,
  3. der Vernetzung mit dem Kirchenkreis,
  4. der Vernetzung innerhalb der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen und der Ev. Kirche in Bremen,
  5. der Fortentwicklung des Arbeitsfeldes Gefängnisseelsorge.
Der damit verbundene Aufwand ist begrenzt zu halten und in den Dienstbeschreibungen zu verabreden.
( 2 ) Pastoren und Pastorinnen mit dem Auftrag zur Gefängnisseelsorge gehören zum Konvent des Kirchenkreises ihres Einsatzortes und sind verpflichtet, an den Kirchenkreiskonferenzen des Kirchenkreises teilzunehmen, dem sie zugewiesen worden sind.
( 3 ) In der Regel dreimal jährlich treten an die Stelle des Kirchenkreisgremiums (Konvent oder Kirchenkreiskonferenz) für die Gefängnisseelsorger und Gefängnisseelsorgerinnen zwei Konferenzen und eine mehrtägige Fortbildung der „Ev. Regionalkonferenz für Gefängnisseelsorge in Niedersachsen und Bremen“, die im Rahmen der Fortbildungspflicht angerechnet wird.
( 4 ) Die Regionalkonferenz der Gefängnisseelsorge dient dem fachlichen Austausch, der Weiterbildung und dem Informationsaustausch.
( 5 ) Aus ihrer Mitte wählt die Regionalkonferenz alle vier Jahre eine Vorsitzende oder einen Vorsitzenden und einen Stellvertreter oder eine Stellvertreterin sowie einen Schriftführer oder eine Schriftführerin. Der oder die Vorsitzende oder der Stellvertreter oder die Stellvertreterin ist Mitglied im Beirat der „Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland“ (EKfGiD). Der oder die Vorsitzende
  1. erstellt die Tagesordnung der Regionalkonferenzen und lädt dazu ein,
  2. pflegt notwendige Kontakte für die Gefängnisseelsorge auf überregionaler Ebene,
  3. informiert die Kirchen der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen und die Ev. Kirche in Bremen kontinuierlich über Anliegen, Fragen und Probleme.
( 6 ) Der zeitliche Aufwand für diese Aufgaben wird mit dem Landeskirchenamt vereinbart.
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§ 9
Rahmenbedingungen des Dienstes der Gefängnisseelsorge

( 1 ) Das Landeskirchenamt legt im Benehmen mit den zuständigen staatlichen Stellen die Einsatzorte für die gemäß § 3 Abs. 1 mit der Gefängnisseelsorge Beauftragten fest.
( 2 ) Gefängnisseelsorge ist im Gefängnis präsent durch
  1. regelmäßige verlässliche Anwesenheit,
  2. telefonische Erreichbarkeit,
  3. ein Büro (Besprechungsraum),
  4. eine Vertretungsregelung für Dienst- und Urlaubsabwesenheiten, die der oder die mit der Gefängnisseelsorge Beauftragte für sich regelt und in geeigneter Weise bekannt macht.
( 3 ) Die gemäß § 3 Abs. 1 mit der Gefängnisseelsorge Beauftragten sind nach den Bestimmungen des Pfarrerdienstrechts und des kirchlichen Tarifrechts verpflichtet, ihren Wohnsitz in erreichbarer Entfernung zum Seelsorgebereich zu nehmen. Die Fahrtzeit sollte nicht mehr als eine halbe Stunde betragen. Die landeskirchlichen Regelungen zu Fragen der Dienstzeit, der Erreichbarkeit, des Urlaubs und der Ortsabwesenheit finden Anwendung.
( 4 ) Räumlichkeiten für gottesdienstliche Feiern und seelsorgliche Gespräche werden vom Gefängnis bereitgestellt.
( 5 ) Der Zugang der gemäß § 3 Abs. 1 mit der Gefängnisseelsorge Beauftragten zu den Gefangenen muss gewährleistet sein.
( 6 ) Einzelheiten werden in Abstimmung mit dem Landeskirchenamt auf der Grundlage der Dienstbeschreibung vor Ort zwischen der Gefängnisleitung und dem oder der mit der Gefängnisseelsorge Beauftragten vereinbart.
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§ 10
Inkrafttreten

Diese Ordnung tritt am 01.07.2009 in Kraft.